Veröffentlicht am: 07.09.2024 um 22:39 Uhr:

Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier bei einer Ordensverleihung während der „Ortszeit Stendal“

Bei einer Ordensverleihung während der „Ortszeit Stendal“ am 27. August 2024 in Stendal hat Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier nachfolgende Rede gehalten...

» Was für ein wunderschöner Ort und was für ein wunderschöner Tag, um zu dieser Gelegenheit zusammenzukommen. Heute ist kein Werktag. Heute ist Feiertag. Es ist ein Feiertag für Sie und für mich – für Sie in der ersten Reihe, weil Sie heute geehrt werden, für mich, weil solche Begegnungen mit Menschen wie Ihnen zu den schönsten Aufgaben eines Bundespräsidenten gehören. Das sind Termine in meinem Kalender, die ich ganz besonders gerne wahrnehme. Ich lerne dabei interessante und beeindruckende Menschen wie Sie kennen. Und ich darf Ihnen den Dank unseres Landes überbringen.

Es ist nur ein kleines Symbol, das Sie künftig am Revers tragen können. Aber dieses kleine Symbol steht für einen großen Dank. Dieser Orden, den einige von Ihnen gleich verliehen bekommen, ist die höchste Anerkennung, die Deutschland für Verdienste um das Gemeinwohl ausspricht. Ich freue mich sehr, Ihnen heute diese Auszeichnung zu überreichen – dazu noch umgeben von wunderschöner Backsteingotik, die auch in Sachsen-Anhalt, wie wir in den letzten Tagen festgestellt haben, so häufig zu finden ist.

Seit Sonntag bin ich hier in Stendal, in dieser wirklich schönen Stadt. Wir bezeichnen es als „Ortszeit“, wenn ich meinen Amtssitz für ein paar Tage von Berlin in eine Gemeinde in Deutschland verlege. Ich mache das seit mehr als zwei Jahren. Und jedes Mal stößt man auf Neues und trifft ganz unterschiedliche Menschen. Sie bringen ihre Geschichte und ihre Geschichten mit, Fragen, die sie umtreiben, ebenso wie Ideen und Lösungen, die sie gefunden haben. Es ist mir wichtig zuzuhören, ins Gespräch zu kommen. Ich nehme mir Zeit dafür. Ich will wissen, was vor Ort bewegt. Es geht mir um die Perspektive der Bürgerinnen und Bürger, die häufig doch so ganz anders ist als der Blick von Berlin aus auf das Land.

Hier in Stendal gehört zum Beispiel zum Thema Zuwanderung auch das Thema Abwanderung. Es war für mich interessant, aus erster Hand zu erfahren, was die Stendaler unternehmen, um die Bürgerinnen und Bürger in der Stadt zu halten oder – auch das habe ich gesehen – diejenigen, die schon weg waren, zum Rückkehren zu bewegen. Sie hier in Sachsen-Anhalt haben in den vergangenen Jahrzehnten erlebt, wie gesellschaftliche und politische Umbrüche auch Regionen verändern. Und Sie haben an vielen Orten die Erfahrung gemacht, wie Städte und Gemeinden Wege finden, sich neu auszurichten.

Im November sind es 35 Jahre, seit die Mauer fiel. Vielleicht brauchen wir diesen zeitlichen Abstand, um den tiefen Einschnitt mit all seinen Folgen überhaupt richtig zu begreifen und einzuordnen. Es bewegt mich, wenn Menschen mir davon erzählen, von den Höhen und Tiefen, die sie durchlebt haben, und vor allem davon, wie sie sich aus den Tiefen herausgearbeitet haben.

Am Ende dieser drei Tage muss ich sagen: Ob es Gespräche im Neubauviertel Stadtsee waren, an der Hochschule Magdeburg-Stendal, mit Geschäftsinhabern oder mit Bürgerinnen und Bürgern bei unserer „Kaffeetafel kontrovers“, ich habe so viele packende, zu Herzen gehende, auch Mut machende Geschichten und gute Ideen gehört. Von diesen Eindrücken nehme ich viele mit nach Berlin und in die Gespräche dort. Und das gilt erst recht für die zupackende Tatkraft und die ansteckende Zuversicht, die in den Geschichten der Menschen zum Ausdruck kommen, denen ich heute begegne – Ihren Geschichten, meine sehr geehrten Damen und Herren, die heute ausgezeichnet werden. Die Fülle an Themen, die Ihr Engagement umfasst, ist durch und durch faszinierend.

Was Ihr Einsatz wirklich bedeutet, das wissen natürlich diejenigen besonders gut, für die Sie sich engagieren. Die ganze Dimension Ihrer Arbeit jedoch kennen die Menschen am besten, die Sie heute begleiten. Es werden Menschen darunter sein, die Ihnen oft den Rücken freihalten, die zu Ihnen halten, auch wenn es manchmal nicht so läuft, wie Sie sich das wünschen, Menschen, die immer wieder auf Sie verzichten, weil Sie viel unterwegs und eingebunden sind. Und es sind zugleich diejenigen – da bin ich mir sicher –, die unglaublich stolz auf Sie sind. Wer sich, so wie Sie, über viele Jahre oder gar Jahrzehnte ehrenamtlich engagiert, wer so anpackt, sich so reinhängt und mit so viel Lebenszeit etwas für andere tut, der ist auch froh, wenn er Menschen hat, die ihm zu Hause Rückhalt geben. Daher möchte ich heute auch Ihnen allen, die als Begleitung mitgekommen sind, ganz ausdrücklich danken!

Kürzlich habe ich von einer Studie gelesen, die einen positiven Zusammenhang zwischen ehrenamtlichem Engagement und der Leistungsfähigkeit des Gehirns festgestellt haben will, denn ehrenamtliches Engagement fördert soziale Kontakte, hält in Bewegung und wirkt sich positiv auf die Stimmung aus, heißt es dort. Ich würde noch ergänzen: Zu den positiven Wirkungen von ehrenamtlichem Engagement gehört es ganz sicher, dass man auf andere Menschen zugeht, dass man mit Menschen zusammen- und ins Gespräch kommt, die man vielleicht sonst ohne ehrenamtliche Tätigkeit gar nicht getroffen hätte.

Die Studie kommt übrigens zu dem Schluss: Wer sich ehrenamtlich engagiert, tut etwas für die eigene Gesundheit. Und in der Tat höre ich von den Menschen immer wieder, von denjenigen, die sich ehrenamtlich betätigen, die sagen: Mir tut das auch gut. Es fällt mir häufig auf an den Menschen, die sich engagieren, wie zufrieden sie sind, zufriedener als der Rest der Gesellschaft, und zugleich auch, wie bescheiden die meisten sind. Sie schauen wenig auf sich, brennen für die Menschen oder die Projekte, für die sie sich einsetzen. Viele reagieren ehrlich überrascht, wenn sie erfahren, dass sie mit einem Orden ausgezeichnet werden sollen, weil sie das, was sie tun, für selbstverständlich halten und gar nicht für auszeichnungswürdig.

Häufig wird den Ehrenamtlichen auch gar nicht bewusst, wie mutig sie sind. Es gehört neben vielem anderen auch Mut dazu, sich zu engagieren, denn wer ein Ehrenamt übernimmt, der wagt etwas, der verlässt seine eigene Komfortzone. Anstatt über einen Mangel zu klagen oder sich davon lähmen zu lassen, wird er aktiv – so wie Sie, die zu Ehrenden heute. Manche von ihnen gehen an die Brennpunkte, dahin, wo es vielleicht zu Konflikten kommt zwischen Alteingesessenen und Zugewanderten, zwischen den Religionen. Sie stehen geflüchteten Menschen zur Seite, die Hilfe bei der Integration brauchen. Oder sie wenden sich anderen Menschen zu, die leider oft an den Rand gedrängt werden, wie etwa Menschen mit Einschränkungen. Einige setzen sich auch kommunalpolitisch für viele andere Belange ein. Und wieder andere möchten nicht tatenlos zusehen, wie die Geschichte ihrer Heimat in Vergessenheit gerät, sondern retten stattdessen lieber historische Stätten und setzen Zeichen der Erinnerung. Andere unterstützen Kinder und Jugendliche, damit die ihre Fähigkeiten entdecken, sei es musikalisch, sozial oder vielleicht beim Fußball. Sie wagen es, neue Wege zu beschreiten mit ihrem Einsatz für Sachsen-Anhalt als Hightechstandort oder für Stadtkinder auf einem Bauernhof.

Solche Projekte zu starten, bedeutet manchmal auch, ein Risiko einzugehen. Es kann schiefgehen. Und in kaum einem anderen Land sind Kritiker so schnell zur Stelle wie bei uns. Leider berichten ehrenamtlich Engagierte auch immer wieder von Anfeindungen, was ich als unerträglich empfinde. Ich bin froh, dass viele trotz der ewigen Besserwisser, trotz der ewigen Nörgler einfach weitermachen mit ihrem Engagement. Das macht anderen Mut.

Ob ehrenamtliches Engagement tatsächlich das Gehirn leistungsfähiger macht oder die Gesundheit stärkt, da ist sich auch die Forschung nicht ganz sicher. Wo sie sich aber sicher ist: Ehrenamtliches Engagement macht uns als Gesellschaft fitter, widerstandskräftiger und reicher. Davon bin auch ich überzeugt. Unterschiedliche Gruppen der Gesellschaft zusammenzubringen, Möglichkeiten der Begegnung zu schaffen, soziale Ungerechtigkeiten auszugleichen, das sind Voraussetzungen für das Gelingen von Demokratie. Das kann der Staat nicht alleine leisten. Dafür brauchen wir engagierte Bürgerinnen und Bürger wie Sie. Sie stärken unsere Gesellschaft. Sie stärken unsere Demokratie.

Und jetzt freue ich mich sehr, Ihnen heute den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland zu verleihen. Ihnen allen schon jetzt meinen herzlichen Dank und vorab meinen herzlichen Glückwunsch! «


Quelle: Bulletin 75-1 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 28. August 2024

Weitere Artikel zum Thema Bundesregierung, die Sie auch interessieren könnten...

Gemeinsame Erklärung über den Ausbau und die Vertiefung der Beziehungen zwischen Deutschland und dem Vereinigten Königreich

Start des Pilotvorhabens für ein Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex in Chemnitz

Zusammenhalt, Mitgefühl und Solidarität sind stärker als Terror, Gewalt und Hass

Bundeskanzler Scholz telefoniert mit dem ukrainischen Staatspräsidenten Selenskyj

Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier zur Eröffnung des wiederaufgebauten Turms der Garnisonkirche