Veröffentlicht am: 16.09.2024 um 13:49 Uhr:
Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier bei der Feierstunde für den Gedenk- und Informationsort für die nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde
» „Jedes Mal, wenn ein Transport angekommen war, konnte man kurze Zeit später eine große schwarze Rauchwolke beobachten.“ Dieses Zeugnis, so scheint es mir, fasst in einem Satz zusammen, was die „Aktion T 4“, die massenhafte Ermordung von Patienten aus den Heil- und Pflegeanstalten des Deutschen Reiches, ausmachte: Sie geschah geplant. Sie geschah in Einrichtungen, die oft idyllisch gelegen waren und deren Namen für Pflege, Fürsorge und Schutz der Hilflosesten standen. Sie geschah heimlich und war darum auch mit Tarnnamen versehen. Und sie wurde doch, je länger sie dauerte, aufmerksamen Beobachtern und den Angehörigen bekannt. Der eingangs zitierte Satz stammt von Karl Schuhmann, der in Hartheim in Oberösterreich wohnte, wo sich eine der sechs im Reich verteilten Mordanstalten der „Aktion T 4“ befand. Er fotografierte auch heimlich die Anstalt, über der tatsächlich eine große Rauchwolke stand.
In der Ausstellung und im Katalog des Gedenk- und Informationsortes hier an der Tiergartenstraße, dessen zehnjähriges Bestehen wir heute würdigen, sind das Zeugnis Karl Schuhmanns und das Foto zu sehen. Allein das zeigt uns, wie wichtig es ist, dass wir seit zehn Jahren diesen Ort des Gedenkens und der Information haben. Und ich füge hinzu, dass wir diesen Ort seit zehn Jahren endlich haben! Ich gebe zu, dass ich ein wenig hin- und hergerissen bin zwischen der Freude darüber, dass wir heute das zehnjährige Bestehen – ja – feiern können, und der Beschämung darüber, dass es erst zehn Jahre sind, dass es so lange, dass es viel zu lange gedauert hat, bis diesen so viele Jahre, ja Jahrzehnte vergessenen Opfern nationalsozialistischer Mordpolitik ein würdiger Ort des Gedenkens gestaltet worden ist. So lange bekamen sie keine Anerkennung als die ersten kollektiven Opfer des Nationalsozialismus.
Ihre Nachkommen und Verwandten, wir alle haben hier endlich einen Ort, um ihrer zu gedenken. Zu danken ist das dem entschiedenen, auch ausdauernden Engagement Einzelner. Ich nenne stellvertretend Ernst Klee, Götz Aly und die unermüdliche Sigrid Falkenstein. Ich nenne den anschließenden Runden Tisch unter der Ägide von Andreas Nachama. Ohne sie und ohne diejenigen, die sie überzeugen konnten mitzutun, gäbe es diesen Ort und diese Gedenkstunde heute nicht. Vielen Dank!
Jede und jeder Einzelne der Ermordeten hat einen Namen, ein Gesicht, ein individuelles Schicksal. Von manchen gibt es Fotos, Briefe, Postkarten. Manche haben gezeichnet oder gemalt. Es gibt Akten, Diagnosen, Gutachten. Es ist gut, dass wir an diesem Ort und im Katalog solche Zeugnisse sehen können, dass wir wissen, hinter den Zahlen stehen immer einzelne Menschen. Einzelne, unverwechselbare Leben waren es, die man auslöschte.
Gerade heute ist dieser Ort, gerade heute sind auch die anderen Orte des Gedenkens für die Opfer des nationalsozialistischen Regimes unendlich wichtig – hier in Berlin das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, für die verfolgten und ermordeten Homosexuellen, für die verfolgten und ermordeten Sinti und Roma. Auch die Gedenkstätten der „Euthanasie“-Aktion in Bernburg, Brandenburg an der Havel und Hadamar zum Beispiel oder der Konzentrationslager im heutigen Deutschland wie Dachau, Bergen-Belsen, Buchenwald und viele andere kleine und größere Gedenkorte, an denen die Erinnerung lebendig gehalten wird, so schmerzhaft sie eben auch ist. Wir dürfen nicht vergessen: Von Deutschland aus und in Deutschland selbst wurden Terror, Verfolgung und Mord geplant und mit ebenso bürokratischer wie brutaler Effizienz betrieben – in einem Maße und mit einem Willen zur Vernichtung, der ohne Beispiel ist.
Es gibt Menschen, es gibt politische Kräfte, die das heute wieder bestreiten, relativieren oder kleinreden. Ich erspare Ihnen Zitate dieser Art. Und ich erspare Ihnen auch Schilderungen der Auftritte von Rechtsextremisten an Orten, die dem Gedächtnis unschuldig hingemordeter und verfolgter Opfer gewidmet sind. Man sieht das und man hört das und ist abgrundtief beschämt. Die historischen Fakten sind unbestreitbar. Es waren über hunderttausend ermordeter Psychiatriepatienten. Es waren auch hunderttausende Zwangssterilisierte, die dem Wahn der sogenannten Volksgesundheit oder dem eiskalten ökonomischen Kosten-Nutzen-Denken der Nationalsozialisten zum Opfer fielen. Und es gab – viele heute namentlich bekannt – Täter und Täterinnen, die als Ärzte und Pflegerinnen, die am Schreibtisch, in den unterschiedlichsten Dienststellen, die bei den Gaskammern oder später auch mit der Spritze oder mit Medikamenten an den Krankenbetten, die als Busfahrer oder Sekretärinnen oder die am Verbrennungsofen den Massenmord vollzogen und die wussten, was sie taten.
Umso mehr gilt mein Respekt allen, die ihre haupt- oder ehrenamtliche Arbeit dem Gedenken und der Erinnerung widmen und die auch heute oft oder wieder einen schweren Stand haben. Wir sind ihnen zu großem Dank verpflichtet. Sie dienen in einer entscheidend wichtigen Frage unserem Land. Und sie dienen der Humanität und Würde aller Menschen. Inhumanität beginnt im Denken. Und sie setzt sich fort, bevor und auch während sie zur mörderischen Aktion wird, in einer verschleiernden, diskriminierenden oder verlogenen Sprache. Seit dem 19. Jahrhundert war nicht nur in Deutschland ein sogenanntes eugenisches Denken auf dem Vormarsch, das – sozialdarwinistisch – sogenannten behinderten oder schwachsinnigen, wie man damals sagte, oder erbkranken Mitmenschen das Recht auf Leben oder auf die Weitergabe des Lebens absprach.
Nur im nationalsozialistischen Deutschland aber führte dieses Denken zur planmäßigen Vernichtung des sogenannten lebensunwerten Lebens. Es war ein gleichsam kriegerischer Akt, zunächst gegen Angehörige der eigenen Bevölkerung. Das wird nicht zuletzt dadurch sichtbar, dass der Auftrag Hitlers zur Ermordung „unheilbar Kranker“, wie es hieß, auf den 1. September 1939 – den Tag des Überfalls auf Polen – zurückdatiert war. Der Beginn des brutalen Angriffskrieges gegen die europäischen Nachbarn war also auch der Beginn des Krieges gegen alle, die nicht den Normen oder dem Ideal des gesunden, später des „rassisch reinen“ Menschen entsprachen. Da das Regime aber nicht sicher war, damit auch dem allgemeinen Willen der Bevölkerung zu entsprechen, wurde die Aktion mit Tarnnamen verschleiert. Wer denkt schon, dass eine sogenannte Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege der Selektion Schwerstkranker und der Vorbereitung ihrer Vernichtung dient? Und wer sollte auf böse Gedanken kommen, wenn die später berüchtigten grauen Busse unter dem Namen „Gemeinnützige Krankentransportgesellschaft“ verkehrten, die in Wahrheit aber die selektierten Hilfsbedürftigen in die Vernichtungsstätten fuhren?
Trotz der Heimlichkeit und trotz der verschleiernden Sprache schöpften manche Verdacht. Unmut, Sorge wuchs in Teilen der Bevölkerung. Hier wurden ja offenbar nahe Angehörige, Mitbürger, hilflose, schutzbedürftige Menschen umgebracht. Es gab auch besorgte Anfragen an die Behörden. Und ein Mitglied der Bekennenden Kirche und preußisch korrekter Amtsgerichtsrat, Dr. Lothar Kreyssig, beschwerte sich beim Reichsjustizminister und erstattete Anzeige. Er, später Mitbegründer der „Aktion Sühnezeichen“, wurde als illoyal aus seinem Amt entlassen und in den Ruhestand versetzt.
Ein öffentliches Politikum wird der Mord an den psychiatrischen Patienten aber spätestens, als der Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, ihn in seiner Predigt vom 3. August 1941 in der St. Lamberti-Kirche in Münster ohne Scheu anprangert, den sprachlichen Schleier wegreißt und die Verbrechen beim Namen nennt. Er berichtet auf der Kanzel, dass er bei der Staatsanwaltschaft Münster Anzeige wegen Mordes erstattet habe gemäß § 139 des Reichsstrafgesetzbuches, nach dem jeder, der vom Vorhaben eines Verbrechens wider das Leben glaubhafte Kenntnis erhalten hat, zur Anzeige verpflichtet war. Und dann kommen seine unvergesslichen und wirkmächtigen Sätze: „Hier handelt es sich um Menschen, unsere Mitmenschen, unsere Brüder und Schwestern! Arme Menschen, kranke Menschen, unproduktive Menschen meinetwegen! Aber haben sie damit das Recht auf das Leben verwirkt? Hast du, habe ich nur so lange das Recht zu leben, solange wir produktiv sind, solange wir von anderen als produktiv anerkannt werden?“ Und er äußert den Verdacht, „dass das bei den Geisteskranken erprobte Verfahren auf andere ‚Unproduktive‘ auszudehnen ist, dass es auch bei den unheilbar Lungenkranken, bei den Altersschwachen, bei den Altersinvaliden, bei den schwerkriegsverletzten Soldaten anzuwenden ist. Dann ist keiner von uns seines Lebens mehr sicher.“
Bischof von Galen war ein Deutschnationaler, kein Verfechter der Demokratie. Aber seine Worte waren ungeheuer mutig und ihre Wirkung enorm, national und international. Man gab sie in Abschriften weiter. In Luftschutzkellern, an der Front, überall verbreiteten sie sich, auch natürlich aus Angst, dass jeder selber oder seine Verwandten die Nächsten sein könnten. Später wurden Ausschnitte aus seinen Predigten vom Auslandsdienst der BBC verbreitet. Wenige konnten danach noch sagen, man habe ja von den Verbrechen nichts gewusst. Diese Predigt bleibt eine der wenigen, manche sagen sogar, die einzige Diskreditierung des Regimes innerhalb Deutschlands während des Krieges, die eine große Öffentlichkeit erreichte. Und sie zeigte Wirkung. Die zentral gesteuerte „Aktion T 4“ wurde erst einmal eingestellt – auch wenn später, dezentral und heimlicher noch, das Morden weiterging. Und längst war mit der sogenannten Aktion 14f13 die Ermordung der nicht mehr arbeitsfähigen Insassen der deutschen Konzentrationslager angelaufen.
Wir wissen heute, wie eng – strukturell und personell – die Ermordung der psychiatrischen Patienten und die millionenfache Ermordung der europäischen Juden miteinander verbunden waren. Schon im Rahmen der „T4-Aktion“ gab es eine Selektion, die sich speziell gegen jüdische Patienten richtete und deren Ziel ihre Ermordung war. Einige der an der „T4-Aktion“ Beteiligten waren dann auch Organisatoren und Täter bei der Vernichtung der europäischen Juden wie der „Aktion Reinhardt“. Hier zeigte sich endgültig, was unter dem Datum des 1. September 1939 mit dem Auftrag Hitlers zum Mord an den Hilflosen in den Heil- und Pflegeanstalten seinen Anfang genommen hatte: der Vernichtungskrieg gegen alle, die nicht in das wahnhafte Konzept der sogenannten Normalität – der „Volksgesundheit“, der „arischen Rasse“, des „reinen Blutes“ und was der schrecklichen Begriffe mehr sind – passten.
Wir dürfen nicht vergessen, was immer droht, wenn wir anfangen zu fragen und zu differenzieren, welches menschliche Leben denn lebenswert sei und welches nicht. Dann stehen Leben und Freiheit zur Disposition und sind fremder Verfügungsgewalt ausgesetzt. Und wir brauchen heute positive Gegenmodelle gegen Normierung und Diskriminierung. Wir brauchen positive Praktiken, angefangen bei der Schule und bei der Bildung, die die Grundüberzeugung von der Zusammengehörigkeit und von der gleichen Würde aller Menschen verwirklichen – mit welchen Einschränkungen an Geist, Seele oder Körper sie auch leben. Wenn heute zum Beispiel Kinder, die mit einer Beeinträchtigung durchs Leben gehen, wieder als Belastung für unsere Gesellschaft und für andere Jugendliche stigmatisiert werden, sagen wir: Alle Kinder haben einen Anspruch auf bestmögliche Entwicklungsmöglichkeiten. Jede und jeder soll die Möglichkeit haben, das Beste aus sich zu machen. Menschen, die auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind, gleich welchen Alters, alle haben ein Recht auf Beistand.
Vergessen wir nie den Schrecken, der damals von der Tiergartenstraße 4 ausgegangen ist. Vergessen wir nicht, dass Inhumanität im Denken beginnt, sich in der Sprache fortsetzt und zu verbrecherischen Taten führt. Dieser Gedenkort hier nimmt uns in die Verantwortung: Die Erfahrung der Vergangenheit muss uns zur Wachsamkeit heute führen. Niemand hat über den Wert eines anderen Menschenlebens zu entscheiden. Jedes menschliche Leben ist lebenswert und hat eine unantastbare Würde.
Bauen wir also alle zusammen an einer humanen Welt! Bauen wir an einer Welt, in der jeder Mensch das Recht hat zu leben – so, wie er ist! «
Quelle: Bulletin 76-2 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 4. September 2024