Veröffentlicht am: 05.04.2024 um 12:04 Uhr:
Fotografie: Vorwärts zurück
» Asketische Lebensformen sollen durch freiwillige Enthaltsamkeit Tugenden wie Selbstkontrolle fördern und den Charakter festigen. Von daher ist die Leica M-D (Typ 262) ohne Display eine stark charakterbildende Digitalkamera, besonders für finanzkräftige Asketen. Im Sinne der Leica-Werbung - „Noch nie kam das digitale Fotografie-Erlebnis so nah an das einer analogen Kamera heran“ - steht dieser Edel-Asket für die Verklärung traditioneller, analoger Werte.
Der Film und seine Verarbeitung werden zum Goldenen Kalb kreativen Schaffens. Wer auf dem digitalen Weg nichts Überzeugendes zustande bekommen hat, kriegt es auch über die analoge Schiene nicht hin. Basis-analoge Versuche mit Holga-Kameras - jedes Foto eine Überraschung - schaffen zwar Gegenstücke zu unseren Sehgewohnheiten und setzen sich vom langweiligen Abbild-Realismus der vielen Smartphone-Fotos ab, erschöpfen sich aber schnell in ihrem provokativen Potenzial. Nicht jeder Schnappschuss ist Kunst.
In unserem technisierten, hektischen Alltag sehnen wir uns nach Entschleunigung und konkreter Dinglichkeit. Wenn ich im 4K-Videomodus 30 Bilder pro Sekunde durchlaufen lasse und dann das scheinbar beste Foto selektiere, ist dies sicher nicht der richtige Weg, um kreativ zu sein. Die Beschränkung auf 36 Aufnahmen pro Film könnte die Konzentration fördern und dem Ergebnis zugutekommen, weil die Bildermasse ansonsten alles erschlägt. Das Entschleunigungszentrum Dunkelkammer ist ein wunderbarer Ort, um zur Ruhe zu kommen, und für viele eher ein therapeutischer Raum denn Kreativ-Stube. Unbestritten ist das Warten auf die Filmentwicklung spannend und das Material ein haptisches Erlebnis. Aber ein Erlebnisraum ist nicht automatisch auch Kunstraum. Warum ausgerechnet der analoge Weg dem bewussten Umgang mit Fotografie so förderlich sein soll, bleibt ein Geheimnis. Bedarf es wirklich des Zwangskorsetts eines Films, um bewusst zu fotografieren? Auch ein Bildsensor ist ein lichtempfindliches Medium und damit ebenso Werkzeug für ästhetische Fotografie. «
Quelle: Kolumne von Winfried Warnke im fotoMAGAZIN 1/2018