Veröffentlicht am: 16.03.2022 um 05:02 Uhr:
Bundesregierung: Rede der Bundesministerin des Auswärtigen, Annalena Baerbock
» Im Herzen sind wir heute bei den mutigen Frauen der Ukraine.
Ich möchte euch sagen: Wir sehen euch. Wir stehen an eurer Seite. Wir tun alles in unserer Macht Stehende – im humanitären Bereich, und auch mit unserer entschiedenen Botschaft an Präsident Putin, diesen abscheulichen Krieg zu beenden.
Und den mutigen Frauen Russlands und Belarus möchte ich sagen: Wir sehen auch euch. Dieser Krieg ist nicht euer Krieg. Es sind eure Söhne, die einen Kampf führen müssen, den sie sich nicht ausgesucht haben. Voller Anerkennung schauen wir auf die vielen Frauen in Russland und Belarus, die gegen diese inakzeptable Aggression demonstrieren. Manche von Euch sind jung. Manche von Euch sind Großmütter, die selbst schon Krieg erlebt haben. Ihr geht trotz allem auf die Straße, riskiert eure eigene Freiheit, um für Frieden und Gerechtigkeit einzutreten. Ich verneige mich vor eurem Mut.
Swetlana, Nisreen, Chan, Habiba, Mut und Entschlossenheit, das ist es, was ich in Ihnen, den Teilnehmerinnen unserer heutigen Veranstaltung, sehe. „Ich war nur eine Hausfrau.“ So haben Sie, Swetlana, es einmal beschrieben. Als Sie die Kampagne Ihres Mannes nach seiner Verhaftung weitergeführt haben, versuchte die belarussische Führung, Sie kleinzureden. Eine Frau sei zu schwach, ein Land zu führen, sagten sie. Ich muss sagen, ich habe kaum je einen Menschen getroffen, der stärker ist als Sie. Für die Präsidentschaft zu kandidieren, während Ihr Ehemann im Gefängnis sitzt und Sie keine Antwort auf die Frage Ihrer Kinder haben: „Wann kommt Papa zurück?“ – Das liegt jenseits meiner Vorstellungskraft.
Sie alle hier führen den Kampf für Ihre Sache mit großer Entschlossenheit. Für Frauen erfordert dieser Kampf eine Extraportion Mut. Ja, auch Männer kämpfen für Freiheit. Auch Väter sorgen sich um ihre Kinder. Doch Frauen haben noch mit einem zusätzlichen Aspekt zu kämpfen. Frauen sehen sich oftmals unverhohlenem Sexismus ausgesetzt, so wie ich ihn gerade an Ihrem Beispiel beschreiben habe, Swetlana. Frauen sind auch im Internet viel stärker von Belästigungen und Hetze betroffen als Männer. Überall auf der Welt erleben Frauen nicht nur Stigmatisierung, sondern auch Ausgrenzung und Missbrauch. Weltweit hat jede dritte Frau physische oder sexualisierte Gewalt durch einen Partner oder durch Dritte erfahren. Wir können und wir dürfen das nicht hinnehmen.
Wir alle haben Anspruch auf all unsere Rechte und Freiheiten – unabhängig davon, ob wir Mann oder Frau sind oder wie wir unsere geschlechtliche Zugehörigkeit definieren. Dazu haben wir uns in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verpflichtet. Und aus genau diesem Grund verfolgt Deutschland eine feministische Außenpolitik. Und so lange Gleichheit und unsere Allgemeine Erklärung der Menschenrechte nicht für jeden und jede Frau geben sind, werden wir diese feministische Außenpolitik verfolgen. Viele Leute haben mich gefragt, was genau das eigentlich bedeutet. Leute fragen: Werden jetzt nur noch Frauen das Land führen? Nein, es geht genau um das Gegenteil: Einer feministischen Außenpolitik geht es nicht um das Ausschließen, sondern um das Einbinden. Es geht nicht darum, weniger Stimmen zu hören, sondern mehr Stimmen. Es geht darum alle Stimmen der Gesellschaft zu hören.
Und: Es ist kein „Frauenthema“. Denn wir alle profitieren davon! Wenn die Hälfte der Bevölkerung keine Möglichkeit zu gleichberechtigter Teilhabe hat, kann keine Gesellschaft ihr Potenzial voll ausschöpfen. Wenn die Hälfte der Weltbevölkerung ausgeschlossen ist, können wir Frieden und Sicherheit nicht dauerhaft erreichen.
Als ich an der Kontaktlinie in der Ostukraine war, haben mir die Frauen dort gesagt: „Solange Frauen nicht sicher sind, ist niemand sicher in der Gesellschaft.“ Eine feministische Außenpolitik ist kein bloßes Themenfeld, sie ist ein umfassender Ansatz unserer Außenpolitik.
Es geht um die drei R: Rechte, Repräsentation und Ressourcen.
Zum Thema Rechte: Wir müssen gegen Rechtsverletzungen vorgehen, wann und wo immer sie geschehen.
Chan, Habiba, Nisreen, wie Sie nur allzu gut wissen, geschieht dies insbesondere in Kriegen und Konflikten. Dann sind Frauen und Mädchen sexualisierter Gewalt, häuslicher Gewalt und Menschenhandel ausgesetzt. Krisen betreffen nicht alle Geschlechter gleichermaßen. Und da Frauen besonders betroffen sind, müssen wir mit unseren politischen Maßnahmen ihre Bedürfnisse und Rechte in den Blick nehmen. Wir müssen sie zu Wort kommen lassen, wenn wir unsere Lösungen entwickeln!
Das ist unser zweites R: Repräsentation:
Studien zeigen eindeutig, dass beispielsweise Friedensprozesse viel wirksamer und dauerhafter sind, wenn sie inklusiver sind. Von einer besseren Repräsentation profitieren wir alle.
Ressourcen. Unser drittes R:
Wir müssen dafür sorgen, dass Frauen Zugang zu dem haben, was sie benötigen: Finanzen, medizinische Versorgung. Doch wir müssen auch genug von unseren eigenen Ressourcen aufbringen, um Geschlechtergerechtigkeit zu fördern.
Das bringt mich zu meinem letzten Punkt: Wir müssen besser darin werden, unser eigenes Handeln selbstkritisch zu prüfen. Wir müssen besser zuhören. Deshalb bin ich heute hier. Und deswegen habe ich Sie heute eingeladen: um zuzuhören. Um einzubinden, nicht auszuschließen; um mehr Stimmen hören, nicht weniger, und um die herausheben, um die es geht – ob sie Hausfrauen, Großmütter, Politikerinnen oder Aktivistinnen sind. «
Quelle: Bulletin 28-1 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 14. März 2022